Cannabis-Therapie: AOK verzichtet auf ihr Veto-Recht
„Ganz klar ein Weg in die richtige Richtung“
Für die Versicherten der AOK Rheinland / Hamburg ist es eine gute Nachricht: Die DGS hat mit dem gesetzlichen Krankenversicherer einen Selektivvertrag geschlossen, der Schmerzpatienten einen schnelleren Zugang zu Medizinalcannabis ermöglicht. Kernpunkt des Vertrags: Hat ein Arzt ein Rezept für medizinisches Cannabis ausgestellt, verzichtet die AOK Rheinland / Hamburg auf ihr Veto-Recht. Das kann die Zeitspanne zwischen dem Verschreiben des Cannabis und dem Beginn der Therapie deutlich verkürzen.
Für den verkürzten Weg zur Cannabistherapie gibt es aber Bedingungen. Möglich ist er nur für Patienten derjenigen Ärzte, die ein 20-stündiges Curriculum zu Cannabinoiden mit einer Lernkontrolle durchlaufen haben. Und – weil das eben die Natur eines Selektivvertrages ist – es kommen nur die Versicherten der AOK Rheinland / Hamburg in den Genuss eines schnelleren Therapiebeginns. Bleibt abzuwarten, ob die anderen großen Krankenkassen nachziehen.
„Der Vertrag zwischen DGS und AOK ist ganz klar ein Weg in die richtige Richtung“, sagt Christian Wagner, Fachanwalt für Medizinrecht, Vorsitzender der SGB V-Kommission beim Deutschen Sozialgerichtstag und Mitgründer von mediorbis. „Derartige Verträge sollten aber bald in ganz Deutschland mit verschiedenen Krankenkassen abgeschlossen werden. Nur so werden flächendeckend schnelle Entscheidungen zum Wohle der Patienten möglich.“
Maximal fünf Wochen bis zur Erstentscheidung
Über den Antrag auf Kostenübernahme bei einer vom Arzt verschriebenen Cannabistherapie muss eine Krankenkasse innerhalb von drei Wochen ab Erhalt des Antrags erstmals entscheiden. Grundlage dafür ist Paragraf 13 (Absatz 3a) des Fünften Sozialgesetzbuchs (SGB-V). Lässt die Krankenkasse die Frist ohne eine ausreichende Begründung verstreichen, gilt der Antrag automatisch als genehmigt. Schaltet sie Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) ein, verlängert sich die Frist auf fünf Wochen. Geht es um besonders dringende Fälle in der Palliativmedizin, verkürzt sie sich dagegen auf nur drei Tage.
Die großen Kassen lehnen bisher ein Drittel der Anträge ab
Die Erstentscheidung geht keineswegs immer zugunsten des Patienten aus. So haben die drei großen Krankenkassen AOK, Barmer und Techniker Krankenkasse immerhin etwa ein Drittel der Anträge auf eine Cannabistherapie abgelehnt. Das berichtete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im Abschlussbericht seiner fünfjährigen Begleiterhebung, die parallel zur Freigabe von Medizinalcannabis gestartet war. Lehnt eine Krankenkasse die Kostenübernahme bei einer Cannabistherapie ab, können Patienten dagegen Widerspruch einlegen. Allerdings vergehen dann oft mehrere Monate bis zu einer endgültigen Entscheidung – und der Ausgang des Verfahrens ist völlig offen.
DSG-Präsident Dr. Johannes Horlemann: Bisherige Praxis „inhuman“
Lange Wartezeiten bis zu einer möglichen Genehmigung der Cannabistherapie durch die Krankenkasse hält DGS-Präsident Dr. Johannes Horlemann für „inhuman“. Eine ähnliche Meinung vertraten diverse Cannabisverbände wie der Bund Deutscher Cannabis-Patienten und der Bundesverband pharmazeutischer Cannabinoidunternehmen. „So wie es ist, kann es nicht bleiben“, fordern sie in einer Pressemitteilung aus dem September 2022. Gleichzeitig beklagen die Verbände die aus ihrer Sicht hohe Ablehnungsquote der Krankenkassen, die zu vielen Privatzahlern in den Apotheken führt.
Eine selbstfinanzierte Cannabis-Therapie kann sich nicht jeder Patient leisten. Deshalb fordern die Verbände die allgemeine Abschaffung des Genehmigungsvorbehalts der Krankenkassen, um die Kostenerstattung für die Patienten zu sichern. Christian Wagner sieht hier die privaten Krankenkassen als Vorbild: „Private Krankenversicherer hatten von Anfang an keinen Genehmigungsvorbehalt und das funktioniert sehr gut.“
Cannabis gegen Alkoholsucht, ADHS … zahlt die Kasse?
Cannabis gegen Saufdruck? Keine Kostenübernahme!
Ein 70-jähriger Krankenversicherter aus dem Landkreis Siegen bekämpfte seinen Drang zum Alkoholkonsum jahrelang mit selbst angebautem Cannabis. Nach dem Verbot des Eigenanbaus sollte die Krankenkasse die Kosten für Medizinal-Cannabisblüten übernehmen. Die lehnte das ab. Den anschließenden Gerichtsstreit verlor der Versicherte in erster Instanz. Im März 2022 entschied auch das Hessische Landessozialgericht im Berufungsverfahren: Der Mann hat keinen Anspruch auf Kostenübernahme. Seine Alkoholerkrankung könne „unter anderem mit Rehabilitationsmaßnahmen, medikamentöser Rückfallprophylaxe und Psychotherapie behandelt werden“ (Quelle: Hessisches LSG).
Cannabis-Therapie: Freigabe mit Einschränkungen
Im März 2017 erweiterte der Gesetzgeber für Patienten die Möglichkeit, eine schwerwiegende Krankheit mit Cannabis auf Rezept zu bekämpfen. Das war zuvor nur in Ausnahmefällen möglich. Auch jetzt gibt es Bedingungen. Das Gesetz fordert unter anderem eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht“, dass Cannabis positiv auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome wirkt. Darüber hinaus gilt: Existiert bereits eine anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapie, gibt es zumeist keinen Anspruch auf medizinisches Cannabis. Ausnahme: Der behandelnde Arzt kann begründen, warum sich die anerkannte Therapie bei seinem Patienten nicht anwenden lässt (SGB V – §31, Absatz 6).
Viel Raum für Interpretationen
Offen bleibt bei den gesetzlichen Vorgaben zum Beispiel, ab wann eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht“ auf eine erfolgreiche Cannabis-Therapie besteht. Die Universität Bremen beklagte etwa im Cannabis-Report 2018 (Seite 15) eher lückenhafte Erkenntnisse zum medizinischen Nutzen der Cannabinoide. Seither hat es aber weitere Studien gegeben. Hilfreiche Informationen kann zudem die Begleiterhebung liefern, die die erweiterte Freigabe von Cannabis für therapeutische Zwecke bis März 2022 begleitet hat. Ebenfalls offen bleibt bisher, was der Gesetzgeber als schwerwiegende Krankheit definiert. Das lässt Raum für Interpretationen und Streitfälle zwischen Krankenkassen und Patienten. „Lehnt die Krankenkasse die Kostenübernahme für eine Cannabis-Therapie ab, sollte man nicht sofort aufgeben. Es bleiben vier Wochen für einen Widerspruch“, sagt Christian Wagner, Fachanwalt für Medizinrecht und Vorsitzender der SGB V-Kommission beim Deutschen Sozialgerichtstag.
ADHS: eine schwerwiegende Krankheit?
Bei der Definition schwerwiegender Krankheiten sind sich die Gerichte nicht immer einig. So scheiterte ein Kläger am Landessozialgericht Baden-Württemberg mit seiner Klage. Seit seiner Kindheit leidet er an ADHS, die er seit dem Alter von 13 Jahren mit Cannabis bekämpft. Eine schwerwiegende Erkrankung liegt bei ihm aber laut Gericht nicht nachweislich vor. Die Krankenkasse muss keine Cannabis-Therapie zahlen. Anders beurteilte das Sozialgericht Frankfurt am Main im Oktober 2021 den Fall eines anderen ADHS-Patienten (Urteil: S 25 KR 313/18). Verbunden ist die Krankheit bei ihm u. a. mit massiven Schlafstörungen und hoher Impulsivität. Die gerichtliche Sachverständige bewertete ADHS bei ihm „als schwerwiegende psychische Erkrankung“. Die Krankenkasse wurde verurteilt, die Cannabis-Therapie zu bezahlen.
Manchmal besteht Aussicht auf beschleunigte Verfahren
„Zum Anspruch auf Versorgung mit medizinischem Cannabis (§ 31, Abs. 6 SGB V) gibt es weiter keine einheitliche Rechtsprechung.“ Das betonte die Neue Zeitschrift für Sozialrecht in ihrer Jahresrevue 2021. „Den Patienten wäre hier mehr Rechtssicherheit zu wünschen“, sagt Christian Wagner. Er empfiehlt Patienten und Ärzten, bei einem ablehnenden Krankenkassenbescheid die Chancen eines Widerspruchs zu prüfen. Wird eine schnelle Entscheidung sehr wichtig, kann ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren den Prozess beschleunigen.