Auf 100 zu besetzende Stellen bei Berufen der Arzt- und Praxishilfe kamen im Jahr 2021 durchschnittlich nur 103 Bewerber (Quelle). Noch etwas dramatischer sind (aus Arbeitgebersicht) die Zahlen des Verbands medizinischer Fachberufe (VmF). 100 freien MFA-Stellen standen im Januar 2022 rechnerisch im Bundesgebiet nur 75 arbeitslose MFA gegenüber (VmF-Quelle).
Zugleich ist die Zahl derjenigen MFA gestiegen, die über eine Kündigung nachdenken. Das ergab eine Umfrage unter 3.900 Fachkräften. 46 Prozent der Befragten hatten in den zwölf Monaten vor der Umfrage mindestens mehrere Male im Monat daran gedacht, „aus dem Beruf MFA auszusteigen“. 2017 lag der Anteil nur bei 22 Prozent. VmF-Präsidentin Hannelore König sieht in diesem Anstieg eine „sehr beängstigende Entwicklung“.
Auch für Anne Hätty, Medical Headhunterin beim Dienstleister für den medizinischen Sektor mediorbis, sind die Zahlen ein Alarmsignal. „Praxisinhaber müssen jede Kündigung als persönliche Herausforderung sehen und kritisch beurteilen, ob der Arbeitsalltag in der Praxis Einfluss auf die Entscheidung des Mitarbeitenden hatte“, sagt sie. Zudem sollte die Kündigung aus ihrer Sicht durch ein intensives Gespräch ebenso begleitet werden wie eine Bewerbungsphase.
Boomerang-Recruiting: So kommt die Ex zurück
Um frei gewordene Stellen zu besetzen, können Personalverantwortliche gezielt ehemalige Mitarbeiter ansprechen. Für diese Strategie existiert der Begriff „Boomerang Recruiting“. Es kostet oft weniger als die Suche nach völlig neuem Personal. Zudem kennt man den Mitarbeiter bereits gut, was u. a. auch eine kürzere Einarbeitung erfordert. Für ein effizientes Boomerang-Recruiting sollten Arbeitgeber mit ehemaligen Mitarbeitern zumindest lose Kontakt halten. Möglich ist das zum Beispiel über soziale Netzwerke, durch Geburtstags- und Weihnachtsgrüße oder Einladungen zu Firmenevents.
Alles steht und fällt aber mit einer freundschaftlichen Trennung. Dann hat Boomerang-Recruiting laut einer aktuellen Umfrage durchaus Chancen. Immerhin können sich branchenübergreifend knapp vier von zehn Arbeitnehmer in Deutschland eine Rückkehr zum alten Arbeitgeber vorstellen. Und etwa ein Drittel hat genau das bereits einmal getan. Für Anne Hätty ist Boomerang Recruiting kein Königsweg auf der Suche nach Personal in Zeiten des Fachkräftemangels. Aber es kann ein Baustein von vielen für eine erfolgreiche Recruiting-Strategie sein.
Jede Trennung ist eine Chance
„Lässt sich eine Kündigung nicht verhindern, hilft ein gutes Abschlussgespräch, sich als Arbeitgeber weiter zu verbessern“, sagt Anne Hätty. Gemeinsam kann man analysieren, wo Stärken und Schwächen in der Teamarbeit der Praxis liegen. Das kann dem Praxisinhaber wichtige Erkenntnisse bringen und stärkt das Gefühl, dass die Wertschätzung durch den Arbeitgeber nicht mit der Kündigung des Arbeitnehmers endet.
Ein möglichst wohlwollendes Zeugnis trägt ebenfalls zu einer positiven Trennungskultur bei. Und die ist wichtig. Selbst, wenn eine Rückkehr der MFA in die Praxis zu 100 Prozent ausgeschlossen werden kann, bringt ein freundschaftlicher Abschied Vorteile. „Medizinisch Technische Assistenten sind oft gut untereinander vernetzt“, weiß Anne Hätty. Das bedeutet nicht zuletzt: Die Wertschätzung des Arbeitgebers, die selbst in einer Kündigungsphase erlebbar bleibt, spricht sich bei jungen Talenten und erfahrenen Kräften herum. Dadurch steigt für Praxen die Chance, sie in herausfordernden Zeiten für sich zu gewinnen.
Zwei Drittel weniger Praxispersonal: wie Ärzte Fachkräfte gewinnen
In den letzten 10 Jahren gingen in Bayern die medizinischen Fachkräfte um zwei Drittel zurück: Während 2012 auf 100 zu besetzende Stellen noch 200 Bewerber kamen, sind es heute gerade mal 69. Das spiegelt den deutschlandweiten Trend wider. Auch aus Niedersachsen kamen in den letzten Wochen ähnliche Zahlen. Die Agentur für Arbeit geht sogar von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Da die offenen Stellen in Arztpraxen nicht meldepflichtig seien, sind vermutlich gar nicht alle Vakanzen bekannt.
Wie konnte ein so großer Fachkräftemangel entstehen?
„Fachkräftemangel ist zum einen ein allgemeines Problem, das durch verschiedene Faktoren wie den demographischen Wandel begünstigt wird. Zum anderen stehen aber Arztpraxen vor ganz spezifischen Herausforderungen“, meint die Ärzte-Recruiting-Expertin Anne Hätty. „Viele medizinische Fachangestellte entscheiden sich im Laufe ihrer Karriere für Perspektiven in anderen Branchen, etwa in der Pharmaindustrie oder Forschung. Die Corona-Pandemie und die Berichterstattung haben die Situation drastisch verschlimmert: In einer Praxis zu arbeiten, weckt heute eher die Assoziationen: Stress, Unterbezahlung, Gesundheitsrisiko.“
Es sei dringend nötig, dass die Branche von der Politik wieder eine Aufwertung erfährt: Ein bundesweiter Corona-Bonus für alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen während der Pandemie wäre eine gute Lösung gewesen, findet Hätty. Gleichzeitig gehe es aber auch darum, das verstaubte Image abzuwischen. Hier brauche es eine Kampagne für die einzelnen Berufsfelder, zum Beispiel von der Ärztekammer. „Gerade MTRA (Anm.: Medizinisch-technische Radiologieassistentin) ist ein spannender, hoch technologischer Beruf, der bei Absolventen kaum bekannt ist. Da kann man nachhelfen“, meint die Medical Headhunterin.
Was können Ärzte tun, um Personal zu gewinnen?
„Der erste Schritt ist zu verstehen, dass eine einfache Ausschreibung oder eine Stellenanzeige in einer lokalen Zeitung heute nicht mehr genügt“, betont Anne Hätty. Wer mit anderen Ärzten um das wenig vorhandene Personal konkurriert, der müsse sich auch dementsprechend attraktiv nach außen präsentieren. „Jeder Unternehmer kennt das Stichwort Employer Branding“, erklärt die Betriebswirtin. „Auch Ärzte müssen unternehmerischer denken und die eigene Praxis als Marke verstehen, die für bestimmte Angebote und Werte steht. Diese Marke muss nach außen kommuniziert werden.“
Eine Bestandsaufnahme sei der nächste Schritt: sich fragen, wo man gerade steht. Erfüllt meine Praxis schon die Punkte, für die meine Marke (auch als Arbeitgeber) stehen soll? Wo kann ich nachbessern? „Ein gutes Betriebsklima ist für Mitarbeiter enorm wichtig, und fördert die Zufriedenheit im Zweifel mehr, als ein paar Euro Aufschlag“, meint Hätty. „Man sollte aber die Gehaltsspanne nicht zu sehr ausreizen. Tarifverträge bieten eine gute Orientierung. Auch weitere Benefits sind wichtig: individuelle Arbeitszeitmodelle oder Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten.“
Das wichtigste Mittel in der Außenkommunikation ist die Praxis-Website: Für den ersten Eindruck ist ein professionelles Webdesign extrem wichtig. Beim Recruiting selbst zählt dann, mit den Mitteln des Online Marketings die potenziellen Bewerber da anzusprechen, wo man sie auch findet: Passiv zum Beispiel durch Social Media Ads oder Google Ads, aber auch aktiv durch direktes Anschreiben.
„Ärzte sollten hier auf professionelle Unterstützung setzen“, rät Hätty, die mit mediorbis ganzheitliche Beratunganbietet. „Von der Bestandsaufnahme über Employer Branding und Webdesign bis zur Online Recruitierung bekommen Ärzte bei den Profis alles aus einer Hand.“
Ein Hautarzt aus Hannover hat nach Angaben des Ärzteblatts vor kurzem aus Personalmangel kurzerhand eine Hotelfachfrau an seinen Praxisempfang gestellt – Not macht erfinderisch. Mit einer ganzheitlichen Praxisberatung hätte er zu denen gehören können, die trotz Fachkräftemangel geeignete Bewerber anziehen.