Was muss? Was kann? Heikle OPs im Corona-Zeitalter

Der permanente Blutverlust der 82-jährigen Patientin war so gravierend, dass sie unter Kurzatmigkeit litt und zunehmend Schwierigkeiten hatte, ihren Lebensalltag zu bewältigen. Der Hämoglobinwert lag bei 8,4 g/dl. Bei Frauen sollte er nicht unter 12 g/dl liegen. Ihr Körper hatte schlicht nicht genug Sauerstoff zur Verfügung. Im Stuhl fand sich okkultes Blut.

Der permanente Blutverlust der 82-jährigen Patientin war so gravierend, dass sie unter Kurzatmigkeit litt und zunehmend Schwierigkeiten hatte, ihren Lebensalltag zu bewältigen. Der Hämoglobinwert lag bei 8,4 g/dl. Bei Frauen sollte er nicht unter 12 g/dl liegen. Ihr Körper hatte schlicht nicht genug Sauerstoff zur Verfügung. Im Stuhl fand sich okkultes Blut.

Ein Befund, der in Verbindung mit dem viel zu tiefen Hämoglobinwert auf eine möglicherweise lebensbedrohliche Situation hinweist und dringend abgeklärt werden sollte. Der Hausarzt entschied im Pandemie-Sommer 2020, die mehrfach vorerkrankte Patientin sollte nicht dem Risiko einer Corona-Infektion im Krankenhaus ausgesetzt werden. Einen Impfstoff gab es noch nicht. Die erforderliche Diagnostik des Magen- und Darmtrakts wurde bis auf Weiteres verschoben.

Wenn irreversible Schäden entstehen, darf nicht verschoben werden

„Das Verschieben eines Eingriffs muss medizinisch vertretbar sein. An der medizinischen Vertretbarkeit fehlt es, wenn diese irreversible Schäden für den Patienten nach sich ziehen würde.“ Das sagt Christian Wagner, Fachanwalt für Medizinrecht bei mediorbis.

Bei Schönheits-OPs dürfte die Lage klar sein. Bei anderen Operationen wie an den Augen, gibt es unterschiedliche Fälle. Jurist Wagner: „Eine altersbedingte Makuladegeneration ist keine lebensbedrohliche Erkrankung. Die OP kann verschoben werden. Bei der feuchten Makuladegeneration dagegen kann eine Erblindung die Folge von zu langem Warten sein. Ein Verschieben ist nicht möglich“.

Auch in der Kardiologie gibt es von schweren Klappenerkrankungen, die jederzeit zum Tod führen könnten, bis zu kleinen Undichtigkeiten einer Herzklappe, deren OP auch noch einen Monat warten kann, verschiedene Dringlichkeiten. „Grundsätzlich trifft der behandelnde Arzt die Entscheidung, ob die Verschiebung einer planbaren Operation medizinisch vertretbar ist“, erklärt Wagner. „Wer als Patient die Entscheidung anzweifelt, hat natürlich immer das Recht auf eine Zweitmeinung.“

Gute Aussicht auf Erfolg bei Schadensersatzklage

„Generell gilt, dass der Patient auch in der Corona-Krise Anspruch auf eine medizinische Behandlung nach dem aktuellen medizinischen Standard hat.“ Wenn die Verschiebung einer planbaren OP zu irreversiblem Schaden führen würde, dann entspricht das nicht dem medizinischen Standard. Der Patient hat dann die Möglichkeit zu klagen: „Er hat Aussicht auf Erfolg, Schadensersatzansprüchen gegen das Krankenhaus oder den behandelnden Arzt geltend zu machen“, sagt Fachanwalt Wagner.

Verschobene Eingriffe sind auch für Ärzte eine schwierige Situation – und verbunden mit der Gefahr, verklagt zu werden. „In jedem Fall ist die Dokumentation und Belegbarkeit der Entscheidung wichtig“, betont Wagner. Der Arzt muss also nachweisen können, dass er gemäß medizinischer Standards handelt. „Der Arzt hat die Pflicht, medizinischen Schaden von seinem Patienten abzuwenden. Gleichzeitig gilt der Grundsatz, dass er nicht zu mehr verpflichtet sein kann, als er zu leisten im Stande ist.“ Es muss also belegbar sein, dass er das nötige Personal für die OP nicht zur Verfügung hat.

Zweite Corona-Welle und ohne Impfschutz ins Krankenhaus

Bei der 82-jährigen Patientin wurden die Beschwerden immer gravierender, der Hämoglobinwert lag bei nur noch 6,7 g/dl. Eine weitere Verschiebung wäre unverantwortlich gewesen, so dass der behandelnde Hausarzt im Dezember nicht länger mit einer Überweisung zur Gastroskopie (Magenspiegelung) und Koloskopie (Darmspiegelung) warten konnte. Einen Corona-Impfstoff gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht und die Infektionszahlen lagen deutlich über denen des Sommers.

Im Krankenhaus entdeckten die Ärzte unter anderem Missbildungen von Gefäßen im Antrum genannten Teil des Magens (Anglioplasien) und entfernten einen gutartigen Polypen. Der Eingriff kam noch rechtzeitig. Die Patientin hatte Glück. Der Arzt wahrscheinlich auch.

Bild 1: ©iStock / simon kr , Bild 2: ©iStock / Morsa Images

Triage kann Totschlag sein

Grün kann warten, Schwarz ist schon tot

Die klassische Triage gehört seit Jahren zum Alltag auf den Notaufnahme-Stationen in deutschen Kliniken. Eine erfahrene Fachkraft labelt anhand der geschilderten oder festgestellten Symptome, wie dringend der Handlungsbedarf ist. Grün bedeutet: hat Zeit. Bei Gelb ist der Zustand schon etwas kritischer. Bei Rot muss sofort gehandelt werden. Blaue Patienten haben keine Überlebens-Chance, schwarze sind schon tot.

Die Corona-Triage greift erst, wenn sich die Situation auf den Intensivstationen so dramatisch gestaltet, das darüber entschieden werden muss, wer überhaupt noch behandelt werden kann. Aber welche Kriterien könnten in diesem – hypothetischen – Fall aus juristischer Sicht greifen?

Ein Team sollte über Leben und Tod entscheiden

„Zunächst einmal sollte in so einem Fall nicht ausschließlich der behandelnde Arzt entscheiden müssen“, sagt Christian Wagner, Fachanwalt für Medizin beim Ärzteportal mediorbis. „Über die Triage sollte ein Team entscheiden. Dieses kann nur aus Ärzten bestehen, aber auch zusätzlich aus einer Pflegekraft und einer unabhängigen Person, etwa aus dem Ethikkommitte.“

„Gemäß der medizinischen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)“, so Wagner, „muss diese Gruppe aus Experten Empfehlungen aussprechen, auf die sie sich in einem informellen Verfahren geeinigt haben.“

Geimpft oder ungeimpft spielt keine Rolle

Diese Vorgehensweise erlaubt einerseits schnelles Handeln und soll andererseits gewährleisten, dass Entscheidungen über Leben und Tod strikt nach Maßgabe der klinischen Erfolgsaussicht getroffen werden. „Ob jemand geimpft oder ungeimpft an Covid erkrankt ist, ist keine Maßgabe“, betont Wagner.

Anklage wegen Totschlags

Ärzte sind rechtlich dazu verpflichtet, gesundheitliche Schäden von ihren Patienten abzuwenden. Folgt daraus eine Strafbarkeit, wenn sie es unterlassen? „Ja“, sagt Medizinrechtler Wagner. „Ein Arzt, der einen Patienten mit seiner Heilkunde und den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das Leben retten könnte, läuft Gefahr, wegen Totschlags angeklagt zu werden, wenn er darauf verzichtet.“

Es gilt andererseits der Grundsatz, dass niemand rechtlich zu mehr verpflichtet werden kann, als er zu leisten im Stande ist. „Das kann Ärzte in Auswahlentscheidungen zwingen. Und wenn diese Entscheidung als falsch angezweifelt wird, kann eine Strafanzeige folgen“, erklärt Wagner.

Dokumentation und Zeugen – so sichern sich Ärzte ab

Wenn die Ärzte allerdings nachweislich gemäß der medizinischen Standards und Leitlinien tätig waren, besteht keine Strafbarkeit. Der Ärzte-Anwalt stellt klar: „Eine Triage nach Maßgabe der klinischen Erfolgsaussicht ist rechtlich zulässig. Unerlässlich ist aber die ordentliche Dokumentation der Situation, so dass die Entscheidung belastbar und belegbar ist – auch von Zeugen.“ Das Triage-Team sollte genau diese Rechtssicherheit gewährleisten.

Wer als Intensivmediziner Triage-Entscheidungen auf sich zukommen sieht, tut in jedem Fall gut daran, sich rechtlichen Rat einzuholen und seine Berufshaftpflichtversicherung zu überprüfen. Sollte ihm kein Experten-Team zur Seite stehen, das ihn bei der Entscheidung und deren Dokumentation und Bezeugung unterstützt, darf er dies einfordern. „Triage ist nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Ärzte ein Risiko“, sagt Christian Wagner. „Wer unter einer psychisch so belastenden Situation arbeiten muss, sollte zumindest jegliches Rechtsrisiko mindern.“

Wagner weiter: „Die Veränderungen der Digitalisierung bringen für den Arztberuf viele neue Möglichkeiten. Es geht nicht darum, sich dem Fortschritt zu verweigern, sondern frühzeitig Sicherungen zu schaffen, dass IT- und dadurch Rechts-Probleme gar nicht erst entstehen können.“

Bild 1: ©iStock / Tempura , Bild 2: ©iStock / PatrikSlezak

Die Impfpflicht zieht in die Praxen ein

Abgeschlossene Impfung, Genesenennachweis oder Attest

Die einrichtungsbezogene Impfpflicht der Ampel-Koalition sieht vor, dass die betroffenen Beschäftigten bis zum 15. März 2022 ihrem Arbeitgeber einen Nachweis über eine abgeschlossene Impfung oder einen Genesenennachweis vorlegen müssen. Alternativ gilt auch ein ärztliches Attest, dass die entsprechenden Mitarbeiter nicht geimpft werden können.

Und was, wenn das nicht passiert? Die Arbeitgeber haben dann die Pflicht, das entsprechende Gesundheitsamt zu informieren. Dazu müssen die entsprechenden personenbezogenen Daten übermittelt werden. Gleiches gilt, wenn es Zweifel daran gibt, dass die Dokumente echt sind – auch hier sind die Arbeitgeber in der Pflicht. Das Gesundheitsamt kann in den genannten Fällen den Zutritt für die Mitarbeiter zu den Einrichtungen verbieten.

Christian Wagner, Co-Founder und Justiziar von mediorbis, ergänzt dabei einen wichtigen Punkt: „Dass die Impflicht für Ärzte, MTAs oder Physiotherapeuten gilt, liegt auf der Hand. Aber: Die Impflicht gilt für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – also auch für das Reinigungspersonal. Das wird in der Diskussion oft übersehen.“

Wo gilt die Nachweispflicht?

Die abgeschlossene Impfung, der Genesenennachweis oder ein Attest müssen zum Beispiel von Mitarbeitern in Krankenhäusern, Einrichtungen für ambulantes Operieren, Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen, Dialyseeinrichtungen, Tageskliniken und Entbindungseinrichtungen vorgelegt werden. Dazu kommen noch Praxen anderer humanmedizinischer Heilberufe oder voll- und teilstationäre Pflegeheime für ältere, behinderte oder pflegebedürftige Menschen, ambulante Pflegedienste und weitere.

Und die Ungeimpften?

Wenn sich einzelne Mitarbeiter partout nicht impfen lassen wollen, dann müssen sich die Arbeitgeber darum bemühen, andere Arbeitsplätze einzurichten. Das Homeoffice ist ein Beispiel dafür. „Ist das nicht möglich, können die Arbeitgeber die betreffenden Mitarbeiter zum Schutz der anderen Mitarbeiter sowie aus der Schadensabwendungspflicht gegenüber den Patienten fristlos kündigen“, so Jurist Wagner weiter.

Ausweitung der Impfzone – zum Beispiel in die Zahnarztpraxen

Das Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie Impfpflicht sieht auch vor, dass zukünftig Zahnärzte, Tierärzte sowie Apotheker gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 impfen können. Auch hier gilt selbstverständlich die Impf-Pflicht für die Mitarbeiter. Dazu müssen die „Impflinge“ das zwölfte Lebensjahr vollendet haben, die Impfenden entsprechend geschult sein und geeignete Räumlichkeiten zu Verfügung stehen.

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Wenn die Kasse kein Cannabis zahlen will

Dronabinol: Das sind die Hürden für eine Kostenübernahme

Die Kostenübernahme durch die Krankenkasse setzt das Recht auf eine medizinische Versorgung mit den Cannabis-Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon voraus. Dieses Recht besteht nur dann, wenn keine andere adäquate Behandlung zur Verfügung steht, die dem medizinischen Standard entspricht (§ 31 Abs. 6 SGB V). Darüber hinaus verlangt das Gesetz eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine positive Einwirkung“ auf die Krankheit. (Weitere Infos zu medizinischem Cannabis im großen mediorbis-Ratgeber)

Christian Wagner ist Fachanwalt für Medizinrecht bei mediorbis und schätzt, dass die Kassen in jedem dritten Fall die Kostenübernahme (zunächst) ablehnen: „Arzt und Patient haben dann einen Monat Zeit, Widerspruch gegen die Ablehnung einzulegen. Die Krankenkasse darf die Kostenübernahme in gewissen berechtigten Ausnahmefällen aber durchaus ablehnen“, so Wagner. Daher empfiehlt es sich, einen Fachanwalt prüfen zu lassen, ob ein Widerspruch oder sogar eine Klage Aussicht auf Erfolg hätten.

Um Streitfälle zu vermeiden, muss die Verschreibung von Cannabis oder Marihuana von vorneherein solide begründet werden. Der Patient muss außerdem seine Einwilligung zur Datenweitergabe an die Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erteilen. Wer Cannabis von der Kasse bezahlt bekommen möchte, ist gut beraten, vor Behandlungsbeginn nachzufragen, ob die Kosten dafür übernommen werden. In der Anfrage müssen unter anderem alle bisherigen unwirksamen oder unverträglichen Therapieansätze aufgeführt sein.

Ärzten, die sich nicht mit den Formalitäten einer Cannabisverschreibung auskennen, stellt die KBV eine Ausfüllhilfe zur Verfügung. Im Falle einer Ablehnung bieten kompetente Fachanwälte wie Christian Wagner Rechtsberatung an.

Wann übernehmen die Kassen?

Für die Kostenübernahme von Cannabis durch eine Krankenkasse gibt es keine gesetzlich festgelegten Indikationen. Krankheiten, bei denen eine Cannabisbehandlung in Frage kommt, sind zum Beispiel Epilepsie, Multiple Sklerose, Fibromyalgie, Morbus Crohn oder bestimmte Krebserkrankungen. Auch steht nicht explizit im Gesetz, dass der Patient bereits austherapiert sein muss, um mit Cannabis behandelt werden zu dürfen.

Das BfArM sammelt anonymisierte Daten zur Wirksamkeit von Cannabis. Demnach sind Schmerzen mit 72 Prozent die häufigste Indikation für eine Verschreibung. Aber auch so unterschiedliche Krankheitsbilder wie Spastiken, Depressionen oder Migräne sind häufige Indikationen für den Einsatz von medizinischem Cannabis.

Generell ist die Verschreibung durch gesetzliche Bestimmungen eingeschränkt, die sogenannte Höchstmengenverordnungen. Innerhalb von 30 Tagen darf der Arzt maximal 100 Gramm Cannabis in Form von getrockneten Blüten, 1 Gramm Cannabisextrakt oder 5 Gramm des Wirkstoffs Dronabinol verschreiben. Allerdings bestätigen auch in diesem Fall bestehende Ausnahmen die gesetzliche Regel.

Voraussetzungen für eine Behandlung mit Cannabis:

  • Eine andere Behandlung, die dem medizinischen Standard entspricht, steht entweder nicht zur Verfügung oder ist unverträglich.
  • Der Arzt hält eine andere Behandlungsmethode wegen der zu erwartenden Nebenwirkungen nicht für anwendbar.
  • Es besteht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

Übernimmt die Krankenkasse Behandlungskosten für eine Cannabis-Therapie, ist der verschreibende Arzt zur Dokumentation (Begleiterhebung) verpflichtet.

Dronabinol

Ohne Dokumentation geht gar nichts

Im Rahmen der zwingend notwendigen Begleiterhebung übermittelt der Arzt folgende Informationen:

  • Alter und Geschlecht des Patienten
  • Diagnoseschlüssel
  • Dauer der Symptomatik
  • Vorherige Therapieansätze
  • Angaben zur Erlaubnis der Selbsttherapie
  • Verordnete Wirkstoffe, wie Dronabinol inklusive Dosierung und Anwendungsart
  • Therapiedauer
  • Angaben über weitere Medikamentenverschreibungen
  • Dokumentation der Wirkungen und Nebenwirkungen
  • Begründung eines eventuellen Therapieendes
  • Angaben über die Lebensqualität des Patienten
  • Fachrichtung des verschreibenden Arztes

Diese Daten erhält das BfArM in anonymisierter Form, der Patient muss vom Arzt über die Weitergabe informiert werden. Doch dann steht einer hoffentlich erfolgreichen Therapie nichts mehr im Wege.

Bild 1: ©iStock / Rocky89, Bild 2: ©iStock / bembodesign

Neulandmethoden können juristisch dünnes Eis bedeuten

Fünf OPs, um eine OP zu korrigieren

Belastungsharninkontinenz, mit dieser Diagnose kam eine heute 65-jährige Frau im April 2008 aus der urodynamischen Sprechstunde einer Klinik in Siegen. Die Ärzte schlugen ihr die Implantation eines Netzes zur Stabilisierung des Beckenbodens bei Senkungsbeschwerden vor. Die Frau willigte ein und wurde noch im selben Monat operiert.

Unmittelbar darauf begannen die Beschwerden. Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (Dyspareunie) und restliche Harninkontinenz. Was die Ärzte der Patientin verschwiegen hatten: die Netz-Implantation war 2008 noch eine Neulandmethode. Fünf weitere Operationen, in denen große Teile des Netzes wieder entfernt wurden, waren nötig. Trotzdem blieben chronische (persistierende) Schmerzen. Die Frau verklagte die Klinik, weil sie sich nicht ausreichend über die Risiken aufgeklärt fühlte.

Ohne Neulandmethoden droht Stillstand in der Medizin

Neulandmethoden sind wichtig, ohne sie gäbe es Stillstand in der Medizin. Aber gerade weil noch nicht alle Langzeitfolgen und Risiken einer OP bekannt sind, muss der Patient wissen, worauf er sich einlässt. „Wer von vorneherein umfänglich aufklärt, muss auch keine Schmerzensgeldforderungen befürchten“, sagt Christian Wagner, Fachanwalt für Medizinrecht beim Ärzteportal mediorbis.

Jurist Wagner empfiehlt, auf folgende Punkte besonders zu achten:

  • Weisen Sie Ihre Patienten explizit darauf hin, dass bei Neulandmethoden noch keine langfristigen Erkenntnisse über Erfolge und Risiken vorliegen.
  • Machen Sie darauf aufmerksam, dass eine eindeutige Abwägung von Nutzen und Risiken der Methode noch nicht abschließend möglich ist.
  • Machen Sie den Unterschied zu einer allgemein anerkannten Standardbehandlung klar und betonen Sie, dass die Neulandmethode noch nicht flächendeckend eingeführt ist.
  • Erklären Sie Ihren Patienten, dass bei der Behandlung auch Risiken in Betracht kommen, die Sie vorher nicht abschätzen können.
  • Beleuchten Sie die Unterschiede zur Standardalternative genau und verdeutlichen Sie die Abwägung zwischen Sicherheit der bewährten Methode und Chancen der Neulandmethode.
Neulandmethoden

Aufklären, auch wenn der Patient nicht explizit fragt

Die Aufklärungspflicht von Seiten des Arztes besteht übrigens auch dann, wenn der Patient nicht explizit nachfragt. Rechtsexperte Christian Wagner: „Jeder Patient muss in die Lage versetzt werden, Chancen und Risiken einer Behandlung selbst abwägen zu können.“

Ein neuer Trend in der Medizin geht sogar noch weiter: Shared Decision Making (SDM). Das bedeutet so viel wie gemeinsam entscheiden. Der Arzt versucht, den Patienten so weit zu informieren, dass der in der Lage ist, gemeinsam mit dem Fachmann eine Entscheidung über die zu wählende Therapie zu fällen. Dafür müssen beide Seiten dazu bereit sein, die übliche Ebene der Arzt-Patienten-Kommunikation zu verlassen.

Kennt der Patient Chancen und Risiken einer Neulandbehandlung, kann er selbst entscheiden, ob er sich den unbekannten Risiken einer neuen Behandlungsmethode aussetzen möchte oder ob er mit einer vielleicht weniger vielversprechenden Standardmethode auf Nummer Sicher gehen will.

Neulandmethoden: OP ohne hinreichende Aufklärung rechtswidrig

Kein Arzt ist dazu verpflichtet, immer auf den Behandlungspfaden der altbewährten Standardmethoden zu wandern. Er darf seinen Patienten Neulandmethoden empfehlen, wenn er diese für vielversprechender hält. Die Einwilligung zu so einer Behandlung ist jedoch nur dann rechtskräftig, wenn der Patient hinreichend aufgeklärt wurde. Auch über die möglichen Risiken.

35.000 Euro Schmerzensgeld

Der Frau mit der Inkontinenz wurden deswegen in zweiter Instanz vom Oberlandesgericht Hamm 35.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen (Az. 26 U 76/17). In erster Instanz waren es sogar 50.000 Euro.

 Das Gericht befand, dass

  • die Klägerin nicht ausreichend darauf hingewiesen worden war, dass es sich um ein Verfahren gehandelt hatte, dass 2008 nicht abschließend beurteilbar war.
  • sie nicht umfänglich über eventuelle auftretende, unbekannte Komplikationen aufgeklärt worden war.
  • die Patientin nicht in die Lage versetzt worden war, selbst die Chancen und Risiken der OP abwägen zu können.
  • die Einwilligung zur Behandlung deshalb unwirksam und somit rechtswidrig gewesen sei.

Der Siegener Klinik hatte auch nicht geholfen, dass die Ärzte der Frau eine alternative Methode vorgeschlagen hatten.

Netz-Implantationen sind übrigens auch heute noch eine große OP, die nur in darauf spezialisierten Kliniken vorgenommen werden sollte.

Bild 1: ©iStock / s-cphoto, Bild 2: ©iStock / Tinpixels

Wann dürfen Ärzte „töten“?

Ein Urteil, das alles verändert hat

Die Hilfe zum Suizid war Ärzten wie Frau Dr. M. in Deutschland bis 2020 nicht erlaubt. Möglich war es ihnen dagegen, einen Patienten nur noch eingeschränkt zu behandeln, um sein Sterben nicht künstlich in die Länge zu ziehen. Darüber hinaus durften sie ihn selbst dann palliativ versorgen, wenn die Maßnahmen sein restliches Leben verkürzten. Dass jetzt auch die Hilfe zum Suizid zumindest theoretisch möglich ist, beruht auf einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020. In der Urteilsbegründung heißt es unter anderem:

Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt.

Frau Dr. M. könnte Herrn P. also theoretisch Betäubungsmittel für seinen Suizid besorgen, die er anschließend in ihrem Beisein einnimmt. Sie darf ihm die Betäubungsmittel aber nicht selbst verabreichen. Das wäre eine aktive Sterbehilfe, die in Deutschland nach wie vor verboten ist.

Was rechtlich erlaubt ist, ist rechtlich unmöglich

Auch die Hilfe zur Selbsttötung ist trotz des Urteils rechtlich noch immer sehr problematisch. Nach bisheriger Interpretation des Betäubungsmittelgesetzes dürfen Betäubungsmittel nämlich nur „im Rahmen einer medizinischen Behandlung zu therapeutischen Zwecken (als Heilmittel) verwendet“ werden. Und das auch nur dann, wenn dafür eine Indikation besteht.

Wir haben im Moment die eigentümliche Situation, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts einem Arzt grundsätzlich die Möglichkeit gibt, eine Hilfe zum Suizid zu leisten. Andererseits macht das Betäubungsmittelgesetz es den Ärzten aktuell praktisch unmöglich, Menschen tatsächlich einen sanften Suizid zu ermöglichen“, sagt Christian Wagner, Fachanwalt im Medizinrecht und Vorsitzender der SGB-V Kommission. Er geht aber davon aus, dass sich die Sachlage in der kommenden Legislaturperiode ändert und dass sich für Ärzte wie Frau Dr. M. dann eine rechtssicherere Situation ergibt. Die moralisch-ethische Entscheidung der Ärzte wird dadurch aber auch nicht einfacher.

Wer darf sterben? Wer soll leben?

Älterer verzweifelter Mann links, tröstende Frau rechts.

Frau Dr. M spricht mit Herrn P. intensiv über seinen Suizidwunsch und nennt ihm dabei auch Alternativen wie eine intensive palliativmedizinische Betreuung. Damit handelt sie im Einklang mit der Bundesärztekammer, die solche Gespräche zum „Kern der ärztlichen Tätigkeit“ zählt. Die „Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung“ hält sie dagegen für keine ärztliche Aufgabe. Frau Dr. M. wird wohl dennoch irgendwann legale Hilfe zum Suizid leisten können, wenn sie es möchte. Für Patienten wie Herrn P. könnte sie sich das auch vorstellen.

Aber wie ist das in anderen Fällen, etwa bei schweren psychischen Erkrankungen körperlich gesunder Menschen? Die rechtlichen Fragen können Ärzte mit Fachanwälten für Medizinrecht klären. Welche Hilfe zum Suizid er mit dem eigenen Gewissen vereinbaren kann, muss allerdings jeder Arzt für sich entscheiden. Einfach ist diese Entscheidung mit Sicherheit nicht.

Bleibt die Frage: Was ist mit Herrn P.? Möglicherweise erlebt er die nötigen Veränderungen in Deutschland noch, um anschließend selbstbestimmt sterben zu können. Alternativ kann er aktuell versuchen, sein Ziel in Ländern wie der Schweiz oder in Belgien zu erreichen, wo auch aktive Sterbehilfe erlaubt ist. So oder so: Er wird Abschied vom Leben nehmen müssen. Wie jeder Mensch. Irgendwann. Und am Ende bleibt nur der Wunsch, dass es ein würdiger Abschied ist: als Abschluss eines hoffentlich guten Lebens.

Bild 1: © iStock / alvarez, Bild 2: ©iStock / Goodboy Picture Company

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